Blog Post

Mein Beitrag zum Barnimer Literaturpreis "Eberhard" für Kinder- und Jugendliteratur

Katharina Golinski • Sept. 27, 2021

Fensterblick aufs Meer

Jurie liebte es, am Meer zu leben. Jeden Morgen, wenn er beim Frühstück saß und sein Müsli verputzte, schaute er aus dem Fenster, direkt auf den Strand. Er beobachtete die Wellen, wie sie kamen und gingen. Wenn er nicht gerade in der Schule war, verbrachte er seine ganze Zeit am Strand. Er rannte mit nackten Füßen durch den Sand, sammelte Muscheln und baute Sandburgen, die ihm hoch über den Kopf ragten. Wenn er abends reingerufen wurde, war sein Haar zerzaust und seine Haut schmeckte salzig. Jurie war ein glücklicher, aufgeweckter Junge. Und aufmerksam war er auch. So entging es ihm nicht, als in das Nachbarhaus ein neuer Bewohner einzog. Frau Strate war vor einiger Zeit ausgezogen. Sie war alt gewesen und konnte nicht mehr allein in dem Haus am Meer leben. Darum zog sie in eine Wohnung in einem Altenheim. Seitdem hatte das Haus leer gestanden.

Eines Morgens war er plötzlich dagewesen. Niemand hatte ihn beim Einzug beobachtet. Es war kein Umzugswagen vorgefahren. Keiner hatte ihn beim Ausladen seiner Habseligkeiten beobachtet. Viele Sachen konnte er also nicht besitzen. Doch nun war er da. Ein kräftiger Mann, mit grauem Zottelbart und langem, lockigem Haar, das er immer in einem Zopf hinten am Kopf zusammenknödelte. Dutt nennt man das, wusste Jurie. Dieser Fremde, Jurie nannte ihn nun einfach Zottelbart, hatte etwas Geheimnisvolles an sich. So plötzlich, still und heimlich, wie er hier angekommen war. Aber das allein war es nicht. Zottelbart hatte einen humpeligen Gang. Man könnte fast meinen, unter seiner Hose verbarg sich ein Holzbein. Und als er in das Haus am Meer eingezogen war, hatte Zottelbart eine richtige Flagge gehisst. Wie gesagt, Jurie war sehr aufmerksam. Und da waren ihm diese Dinge nicht entgangen. Bisher hatte Jurie sich nie nah genug an das Haus herangewagt. Aber er war sich ziemlich sicher, dass es eine Piratenflagge sein musste, die da im Wind wehte. Und Zottelbart, der war dann wohl ein echter Pirat. Das stand fest. Fand Jurie.

Mit seinem Fensterblick auf das Meer sah Jurie diesen Piraten nun jeden Morgen am Strand entlanghumpeln. Immer, wenn die Flut sich gerade zurückzog und der weite Sandstrand sich freilegte. Er humpelte los und kam dann nach einiger Zeit mit einem riesigen schwarzen Beutel zurück. Gefüllt bis oben hin. Aber mit was nur? Das war nicht zu erkennen. Und Jurie zog seine eigenen Schlüsse. Vermutlich war Zottelbart hier, um seine verborgenen Schätze auszugraben. Er war bestimmt pleite gewesen und kam deshalb ohne viel Zeug hier an. Nun buddelte er seine Schätze am Strand aus, die er dort vor vielen Jahren vergraben hatte. So machten das Piraten doch schließlich. Und von dem Gold könnte er sich dann wieder neue Sachen kaufen. Ganz einfach und total glasklar. Da brauchte Jurie ja auch gar nicht zu Zottelbart hingehen und mal nachfragen, was der da so jeden Morgen machte. Denn schließlich wusste Jurie es ja schon. Das hatte also ganz und gar nichts damit zu tun, dass er es sich nicht trauen würde. Denn Jurie war nicht nur aufmerksam, sondern auch mutig. Fand Jurie.

Eines Morgens, Jurie saß wie immer vor seinem Müsli und blickte aus dem Fenster, da tauchte Zottelbart auf. Wie gewohnt hatte er einen großen schwarzen Sack auf dem Rücken. Plötzlich ließ er den Sack fallen und rannte los – humpelig, aber überraschend schnell. Er kniete sich hin und schien etwas am Boden zu machen. Jurie wurde ganz nervös. Würde Zottelbart jetzt hier einen Schatz ausgraben, direkt vor seinen Augen? Der hatte ja Nerven. Das wollte Jurie sich auf keinen Fall entgehen lassen. Er sprang vom Stuhl auf und rannte los zum Strand. Er hatte keine Zeit, um sich seine Schuhe anzuziehen. Also lief er barfuß los. Der Sand fühlte sich kühl an und war noch ganz feucht von der Flut, die gerade erst gegangen war. In all der Aufregung hatte er gar keine Zeit gehabt darüber nachzudenken, was Zottelbart wohl machen würde, wenn Jurie ihn dabei erwischte, wie er seinen Schatz aushob. Als Jurie bei Zottelbart ankam, war er völlig außer Atem. Zottelbart drehte sich um und in seiner Hand hielt er ein riesiges Klappmesser. Es glänzte in den ersten Sonnenstrahlen des Tages. Jurie stockte der Atem. Jetzt ist es aus, dachte er. Warum war er einfach losgerannt, ohne nachzudenken. Mist!

Doch dann geschah etwas Unerwartetes. Zottelbart lächelte Jurie freundlich an und sagte: „Junge, gut, dass du da bist. Ich kann deine Hilfe gebrauchen! Pack mal mit an.“ Zottelbart trat zur Seite und Jurie verstand sofort, was los war. Es ging hier um keinen Goldschatz, sondern um etwas viel Wertvolleres. Da zu ihren Füßen lag ein Seehund, der sich in einem großen, alten Fischernetz verfangen hatte. Solche Netze wurden hier häufig angespült. Dieses Netz war besonders groß. Das unschuldige Tier hatte sich mit seinem Schwanz darin verheddert und kam nun weder vor noch zurück. „Ich packe den Seehund am Kopf, dann kann er uns nicht verletzen. Halte du das Netz straff und ich versuche die Kunststofffasern mit meinem Messer zu durchtrennen.“, sagte Zottelbart. Jurie packte mutig mit an. Mit etwas Mühe hatten sie es bald geschafft, das Netz zu zerschneiden. Zottelbart packte das Tier mit einem festen Griff. „Was machst du da?“, fragte Jurie erschrocken. „Ich schaue, ob es ihm gut geht. Oder ob er sich verletzt hat. Aber es scheint noch einmal gutgegangen zu sein. Geh mal ein Stück bei Seite. Ich lasse ihn jetzt los.“ Zottelbart schien genau zu wissen, was er tat. Ein wirklich netter Pirat, dachte Jurie. Als Zottelbart den Seehund losließ, robbte dieser in einem sagenhaften Tempo Richtung Wasser, als hätte er Angst, dass die beiden Menschen es sich noch einmal anders überlegen könnten. Dann verschwand er in den Fluten. Erleichtert schaute Jurie ihm nach und wünschte ihm in Gedanken alles Gute. 

Für einen Moment blieben die beiden still dort stehen und schauten hinaus auf das Meer. Dann wurde Jurie plötzlich bewusst, mit wem er da eigentlich stand und schaute unsicher zur Seite. Zottelbart schaute abwesend hinaus auf die Wellen und schien mit den Gedanken ganz woanders zu sein. So aus der Nähe sah Zottelbart eigentlich ganz nett aus, dachte Jurie. Dann wendete er sich zum Gehen und was sah er da? Direkt vor ihm im Sand lag der große schwarze Beutel. Weil Zottelbart so in Eile gewesen war, hatte er den Beutel achtlos zu Boden fallen lassen und er war umgekippt. Jurie musste es einfach wissen. Was war in diesem Beutel drin? Goldtaler? Schmuck und Diamanten? Langsam griff er nach dem Beutel. Doch als er hineinschaute, traute er seinen Augen kaum. Es waren keine Piratenschätze in dem Beutel. Nein. Es waren Plastikflaschen, weitere Fischernetze und anderer Müll. Jetzt verstand Jurie gar nichts mehr. Warum sollte man denn bitte jeden Morgen loslaufen und Müll einsammeln. Was wollte Zottelbart damit?
Plötzlich stand Zottelbart hinter Jurie. „Erschreckend, oder?“ dröhnte er. „Wenn wir so weitermachen, dann gibt es in 35 Jahren mehr Plastik im Meer, als Fische! Kannst du dir vorstellen, dass mittlerweile ganze Plastikinseln in den Meeren da draußen schwimmen? Im Nordpazifik schwimmt eine Insel aus Plastik, die ist so groß wie ganz Europa.“ Jurie versuchte sich das vorzustellen. Europa ist wirklich groß. Das wusste er aus der Schule. Zu Europa gehörten Länder wie Spanien, Frankreich, Portugal, Italien, Griechenland, Deutschland und so viele mehr. Und eine so riesige Plastikinsel schwamm dort draußen auf dem Meer? Jurie kam ins Grübeln. Das war wirklich verdammt viel Müll. Zottelbart erklärte Jurie, dass er jeden Morgen eine Runde am Strand drehte, um all den Müll einzusammeln, den die Flut angetrieben hatte. Und jeden Morgen machte er einen riesigen schwarzen Beutel voll. An guten Tagen, so wie heute, kam es vor, dass er Tiere befreien konnte. An weniger guten Tagen kam er leider zu spät und er konnte nicht mehr helfen. „Seehunde, Robben und andere Tiere, zum Beispiel Meeresvögel, verfangen sich in den Seilen und kommen dann nicht mehr heraus. Sie verhungern, oder verdursten in der Sonne. Andere Tiere fressen kleinere Plastikteile und sterben dann daran. Es ist einfach schrecklich.“ Das fand Jurie auch und fühlte sich jetzt irgendwie doof. Er hatte beim Spielen am Strand häufiger gesehen, dass dort alte Fischernetze und anderer Müll lagen. Aber er hatte sich nie groß Gedanken darüber gemacht, woher der Müll kam und was er für die Umwelt bedeutete. Jetzt hatte er ein schlechtes Gewissen, dass er nie etwas getan hatte. Zottelbart schien zu spüren, was in Jurie vorging und lächelte ihn freundlich an. „Was meinst du? Hast du vielleicht Lust mich morgen früh zu begleiten? Zusammen schaffen wir in der gleichen Zeit einen viel größeren Abschnitt des Strandes.“ Jurie freute sich über die Möglichkeit etwas tun zu können und nahm die Einladung gerne an. Zottelbart wusste sehr viel über das Meer, denn er war gar kein Pirat, sondern ein Meeresschützer. Und die Flagge an seinem Haus, das war eine Flagge von seiner Meeresschutzorganisation. Den humpeligen Gang hatte Zottelbart übrigens nur, weil er nicht mehr der Jüngste war, und vom Laufen im Sand bekam er Schmerzen im Knie. Da hatte Jurie sich aber mächtig getäuscht. Es ist eben nicht immer alles so, wie es auf den ersten Blick scheint.

Von nun an stand Jurie jeden Morgen etwas früher auf, als er eigentlich musste und drehte noch vor der Schule seine Strandrunde mit Zottelbart. Einmal organisierte Jurie sogar eine Müllsammelaktion mit seiner Lehrerin – die ganze Schulklasse half mit, den Strand zu säubern. Das machte Jurie mächtig stolz und er war froh, am Meer zu wohnen und hier direkt etwas für den Meeresschutz tun zu können. 
Nach der Sammelaktion fragte Jurie: „Aber sag mal, was können denn nun all die Menschen tun, die nicht direkt am Strand wohnen? Für die es zu weit weg ist? Meeresschutz muss doch auch auf andere Arten funktionieren, oder?“. Zottelbart lächelte ihm zu und antwortete: „Es ist ganz toll, dass du dir diese Frage stellst. Jeder von uns kann darauf achten, nicht so viel Müll zu produzieren. Ganz egal, ob man direkt am Meer lebt, oder mitten in der Stadt, oder in den Bergen. Es geht schon bei Kleinigkeiten los. Anstatt das Butterbrot für die Schule in eine Plastiktüte zu packen, kannst du eine Edelstahldose anschaffen, die bei guter Pflege dein ganzes Leben lang halten wird. Auch das Wasser für unterwegs kannst du ganz einfach in eine Edelstahlflasche füllen statt Plastikflaschen zu kaufen. Es gibt so viele Möglichkeiten Müll einzusparen. Schau doch mal in deinem Alltag, wo du Müll vermeiden kannst. Denn auch damit schützt du automatisch unsere Meere.“ Jurie fand, dass das alles wirklich tolle Ideen waren und er wollte es auf jeden Fall mit seinen Eltern besprechen. Außerdem hatten ja vielleicht auch seine Freunde Lust mitzumachen. Er würde sie einfach mal fragen.

Denn wenn jeder von uns ein paar Kleinigkeiten verändert, dann macht das gemeinsam eine große Veränderung aus. 

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